15.
Mary Jane wachte plötzlich auf. Nur unter großer Anstrengung öffnete sie die Augen. Eisige Kälte umgab sie. Sofort senkte sich tiefe Niedergeschlagenheit über sie.
Denn sie hatte nie wieder aufwachen wollen. Sie haderte mit sich, weil sie nichts ordentlich machen konnte. Wozu hatte sie Krankenpflege gelernt? Sie lag auf dem Bett ohne Decke, noch in dem schwarzen Kleid, das sie am Tag zuvor zur Beerdigung getragen hatte. Jetzt war es zerdrückt und unansehnlich geworden.
Der Tag der Beerdigung stand wieder vor Mary Janes Augen. Nach der Beisetzung hatte sie getrunken. Viel getrunken. Wieder erschauerte sie unter der Kälte. Sehr langsam stand sie auf. Plötzlich erbrach sie sich.
Danach sah Mary Jane sich in dem kärglich eingerichteten, armseligen Zimmer um. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, obwohl sie in diesem Schlafzimmer groß geworden war. Allerdings hatte sie sich stets als Eindringling gefühlt. Auch als Kind. Sie wußte, daß hinter der Schranktür die Kartons mit den Resten ihrer Kindheitserinnerungen gestapelt waren. Der Geruch von Moder mischte sich mit dem ihres Erbrochenen. Mühsam beseitigte sie die Spuren, die ihre Übelkeit hinterlassen hatte, mit einem alten Lumpen, der einmal ein Handtuch gewesen sein mußte.
Auch nach so vielen Jahren schmerzte es noch, daß ihre Großmutter alle Habseligkeiten ihrer einzigen Enkelin fortgeräumt hatte, kaum daß diese ihre Krankenpflegeausbildung begann. Mary Jane hatte es nie über sich gebracht, sich mit dem Inhalt der Kartons zu befassen: alte Kleidung, Zeitungsausschnitte, Tagebücher, Erinnerungsstücke. Dennoch hatte sie es ihrer Großmutter übelgenommen, daß die es so eilig gehabt hatte, alle Spuren ihrer Enkelin zu beseitigen.
Mary Jane zog ihren Morgenrock an. Sie fror erbärmlich. In Strümpfen tappte sie die ausgetretene Holztreppe hinunter. Sie meinte neben sich Snowball zu hören, wie er sie auf sanften Pfoten begleitete. Sie hatte den Kater geliebt. Inzwischen war er längst tot. Nun hatte sie in New York nur noch Midnight als Freund. Sehr viel hatte sich seit ihrer Kindheit also nicht geändert.
In der Küche sah es verheerend aus. Ihre Großmutter hatte den Haushalt verkommen lassen.
Mary Jane füllte einen Kessel mit Wasser und setzte ihn auf den Herd. Während sie darauf wartete, daß das Wasser kochte, sah sie sich in der Küche um. In einer Ecke waren leere Suppendosen gestapelt. Es gab eine Menge angeschlagenes Geschirr. Die Tapete war verblaßt und wellte sich, was Mary Jane auf das Regenwasser im Frühjahr zurückführte und das undichte Dach. Den grünbraunen Emailleherd auf seinen sechs Metallfüßen bedeckte ein Schmutzfilm. Vor dem Ausguss und dem Herd kamen die Dielen unter dem abgenutzten Linoleum hervor.
Der Blick aus dem schmutzblinden Fenster konnte die Stimmung kaum heben. Ein stahlgrauer Himmel, die Wolken schwer vor Nässe. Allmählich erinnerte Mary Jane sich an die Einzelheiten des vergangenen Tages. Nur wenige Leute hatten sich auf dem Friedhof eingefunden, Nachbarn, die es für ihre Pflicht hielten, der Verstorbenen ein letztes Geleit zu geben. Mary Janes Großmutter hätte diese Pflicht ihren Nachbarn gegenüber sicher nicht für nötig gehalten.
Nachdem die erste Schaufel Erde dumpf auf den billigen Fichtenholzsarg gepoltert war, bezahlte Mary Jane die Beerdigungskosten bei Mr. Robinson und stieg in ihren Mietwagen, den sie sich an sich nicht leisten konnte. Allein kehrte sie in das trostlose Bauernhaus zurück. Sie trank einen Schluck Whisky.
Danach noch einen und noch einen. Sie weinte. Doch nicht um ihre Großmutter, sondern um ihr eigenes verpfuschtes Leben. Sie war in das Zimmer ihrer Großmutter gegangen und hatte alle Tabletten, die sie dort auf dem Nachttisch fand, genommen und mit Whisky heruntergespült. Sie hatte nicht wieder aufwachen wollen, weil sie glaubte, nicht noch einen einzigen Tag ohne Zukunftsaussichten ertragen zu können. Mit vierunddreißig Jahren hatte sie ihre Scheibe vom Glück bereits erhalten und verbraucht. Sie hatte eine gute Rolle als Schauspielerin gehabt und einen Mann, der etwas Besonderes darstellte. Wenn es eine dicke, unattraktive Schauspielerin bis zu ihrem vierunddreißigsten Jahr nicht geschafft hatte, durfte sie sich von der Zukunft nichts mehr erwarten.
Leider hatte das Tablettenschlucken nichts gebracht. Sie, eine Krankenschwester, fand nicht das richtige Rezept für einen Selbstmord. Grotesk!
Keine gnädige Bewußtlosigkeit oder, noch besser, der Tod, schützte sie vor der häßlichen Umgebung, vor dem Schmutz, vor ihr selbst. Trotz aller Anstrengungen, dem allen zu entkommen, hatte sie es nicht fertiggebracht.
Sie durfte auf keinen zweiten Sam hoffen, auch auf keine neue Rolle wie die Jill oder einen Freund wie Neil.
Im Küchenschrank suchte Mary Jane nach etwas Eßbarem, mit dem sie ihren kranken Magen beruhigen konnte. In alten Einmachgläsern fand sie Trockenerbsen und -gemüse, seit Jahren gelagert. Endlich entdeckte Mary Jane Crackers. Sie wußte, daß das die einzige feste Nahrung war, die sie vertragen konnte. Mit der Plastikschachtel setzte sie sich wieder an den Küchentisch.
Der Kaffee dampfte in ihrer Tasse. Vorsichtig biß Mary Jane in einen Cracker. Er schmeckte schauderhaft. Sie spuckte den Bissen in den Ausguss. Dann nahm sie eine andere, scheinbar noch versiegelte Packung Crackers aus der gleichen Schachtel, stellte aber fest, daß auch die geöffnet worden war, wenn auch am falschen Ende. Und die Packung enthielt auch keine Crackers, sondern etwas Grüngraues.
Mary Jane dachte zuerst an eine Maus und ließ die Packung fallen. Doch nichts bewegte sich. Da untersuchte sie die Packung genauer und hielt die Luft an. Vor ihr lag ein Bündel Banknoten, mit einem Gummiband zusammenhalten.
Die Geldscheine waren so fest zusammengerollt, daß es eine Weile dauerte, bis es Mary Jane gelang, sie zu zählen. Es waren 637 Dollar. Wie erschlagen starrte Mary Jane auf den Schatz. Woher stammte das Geld? Offensichtlich hatte ihre Großmutter doch das Geld bewußt versteckt!
Was hast du damit anfangen wollen, Grandma, dachte Mary Jane. Und plötzlich weinte sie wirklich um die verrückte alte Frau. Sie trauerte um die verpaßten Gelegenheiten ihrer Großmutter, denn sie ging davon aus, daß sie ein Leben lang hatte dafür sparen müssen.
Inzwischen war der Kaffee nur noch lauwarm. Zum erstenmal in ihrem Leben dachte Mary Jane über die Einkünfte ihrer Großmutter nach. Sie hatte ja immer erklärt, bettelarm zu sein. Mary Jane erinnerte sich nur zu gut daran, wie Grandma darauf pochte, daß es nur der Güte ihres Herzens zu verdanken sei, daß sie Mary Jane durchfütterte, obwohl sie selbst kaum genug zum Leben hatte. Nun fragte Mary Jane sich, ob das alles gestimmt hatte. Zweifellos hatte Grandma eine Unterstützung für ihre minderjährige Waise erhalten. Der Großvater hatte bei der Eisenbahn gearbeitet. Hatte er nicht auch eine Pension bezogen? Erhielt Mary Janes Vater nicht eine Pension von der Armee, bei der er gedient hatte? Erst jetzt dachte sie darüber nach, daß die Großmutter auch Pachtgeld für das Weideland um das Haus bezogen haben mußte.
Wie eine Schlafwandlerin, die allmählich zu sich kommt, schüttelte Mary Jan.e den Kopf. Konnte da noch mehr sein?
Mary Jane riß alle vorhandenen Crackerpackungen auf. Sie fand nichts. Nur Verfall, Staub und Spinnweben. Nein, Grandma mußte tatsächlich bettelarm gewesen sein. Doch der Gedanke ließ Mary Jane nicht mehr los. Wenn es nun doch noch mehr Geld gab?
Mit zitternden Händen nahm sie jedes einzelne Glas aus dem Regal und untersuchte den Inhalt. In der hintersten Reihe fiel ihr ein verstaubtes Glas auf. Sie wusch die Schmutzschicht ab, öffnete das Glas und griff hinein. In eine Plastikfolie eingewickelt, fand sie eine weitere Rolle mit Geldscheinen. Sie zählte das Geld. Fast zweitausend Dollar!
Noch einmal setzte Mary Jane Kaffee auf. Ihr Herz klopfte wie ein Schmiedehammer. Wo soviel war, konnte noch mehr sein.
Beim Anblick der Geldscheine auf dem Küchentisch begriff Mary Jane endlich, daß ihre Großmutter sie nie geliebt hatte. Zwar hatte sie die Enkelin nach dem Unglück ins Haus genommen, doch geliebt hatte sie das Kind nie. Das erklärte im Nachhinein auch Mary Janes Gefühl, in diesem Haus nur geduldet gewesen zu sein. Mary Janes Bitten um etwas Geld für Kino oder Süßigkeiten waren stets mit der Bemerkung abgelehnt worden: »Jetzt, wo ich zwei Mäuler zu stopfen habe, können wir uns das nicht leisten. Schlimm genug, daß du mir zur Last fällst.«
Mary Jane schlug mit der Faust auf den Tisch. Die alte Frau hatte gelogen. Woher stammte das Geld? Sie stand auf und sah sich um. Warum waren die gespülten Suppendosen aufgehoben worden? Mary Jane stieß den Stapel um, so daß die Dosen über den Boden schepperten.
Verdammt, Grandma, ich habe dir doch nichts getan. Wie konntest du nur so gemein sein? Warum hast du mir kein winziges bißchen Liebe gegönnt?
Mary Janes Blick fiel wieder auf die Beulen in der Tapete über dem Ausguss. Sie nahm ein Messer und schnitt ein Viereck in das Papier. Behutsam löste sie die Tapete ab. Dahinter fand sie Papiere, wie sie als Schutzblätter in Fotoalben zwischengeheftet werden. Durch den dünnen Einband hindurch konnte Mary Jane sehen, daß es sich um Obligationen handelte. Sehr alte. Sie zählte sie, Elftausend Dollar!
Danach nahm sie das Haus systematisch auseinander. Das dauerte Stunden. Sie drehte jedes Bild um, untersuchte die Polster, die Bodenbretter, selbstverständlich alle vorhandenen Einmachgläser. Im Tiefkühlschrank entdeckte sie viertausend Dollar in einen Eisblock eingefroren. Im Badezimmer 760 Dollar in einer uralten Kleenex-Schachtel. Sie riß auf, zerschlug und durchwühlte alles in dem verkommenen kleinen Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Dabei schluchzte sie haltlos.
Am Abend schleppte Mary Jane sich an Körper und Seele erschöpft mit siebenundsechzigtausend Dollar in bar und in Aktien auf ihr Zimmer. Im Vorbeigehen fiel ihr Blick auf den Thermostat, der, wie üblich, so niedrig wie möglich eingestellt war. Auch die unterkühlten Zimmer gehörten zu dem, worauf ihre Großmutter bestanden hatte. Energisch schob sie den Zeiger höher. Von nun an würde sie es wenigstens warm haben.